Armenien in Bedrängnis

«Der Westen macht sich zu grossem Teil mitschuldig»

Für ältere Menschen wiegt die Vertreibung aus der Heimat Bergkarabach besonders schwer.
Westliche Regierungen machen sich zu einem grossen Teil mitschuldig an der Aggression Aserbaidschans gegen die Armenier, argumentiert Joel Veldkamp von CSI. In Bergkarabach sind christliche Stätten und Kulturgüter bereits in grösster Gefahr.

«Schon jetzt sind viele Kirchen und Friedhöfe verwüstet oder beschossen, Kreuze entfernt, Grabsteine zerstört und so weiter», berichtet Joel Veldkamp, Sprecher der christlichen Menschenrechtsbewegung «Christian Solidarity International» CSI mit Sitz in Binz (ZH), im Gespräch mit Livenet.

Man hört nicht mehr viel über Bergkarabach, die offiziellen Strukturen wurden zum Jahresbeginn aufgelöst – wie sieht die Lage gegenwärtig generell aus?
Joel Veldkamp:
Von Dezember 2022 bis September 2023 wurde Bergkarabach von Aserbaidschan aus belagert. Am 19. September, als Hunger und Verzweiflung in Bergkarabach ihren Höhepunkt erreichten, startete Aserbaidschan eine Blitzkampagne zur Eroberung der Region. Innerhalb von 48 Stunden wurden die Armenier besiegt. Die gesamte armenische Bevölkerung floh vor der Machtübernahme. Heute ist Bergkarabach nahezu unbewohnt.

Es ist nicht ganz richtig, dass die offiziellen Strukturen Bergkarabachs am 1. Januar aufhörten zu existieren. In den ersten Tagen nach dem aserbaidschanischen Angriff im September, als Aserbaidschan den Präsidenten von Bergkarabach de facto als Geisel hielt, unterzeichnete er tatsächlich ein Dekret über die Auflösung der Republik mit Wirkung vom 1. Januar 2024. Es ist jedoch erwähnenswert, dass er dazu keine verfassungsmässige Befugnis hatte, und als er sich in Armenien in Sicherheit befand, verzichtete der Präsident auf dieses Dekret. Die Regierung von Bergkarabach tagt weiterhin im armenischen Exil, und die Bevölkerung besteht nach wie vor auf ihrem Recht, frei in ihrer Heimat zu leben.

Joel Veldkamp vor dem UN-Gebäude

Wie sieht die Lage der einheimischen Christen aus?
Fast die gesamte christliche Bevölkerung Bergkarabachs wurde zur Flucht gezwungen. Über die Zahl der noch verbliebenen Armenier gibt es unterschiedliche Angaben, wahrscheinlich sind es weniger als hundert. Die meisten Bewohner Bergkarabachs sind heute Flüchtlinge in der Republik Armenien. Als Bergkarabach fiel, wuchs die Bevölkerung Armeniens über Nacht um ein Prozent. Arbeitsplätze sind rar, viele Menschen aus Bergkarabach leben noch immer in Schulen, Kirchen und unfertigen Gebäuden. Für viele ist es bereits das zweite oder dritte Mal, dass sie durch aserbaidschanische Angriffe vertrieben wurden. Aserbaidschan hält noch immer Dutzende von Armeniern aus Bergkarabach als Geiseln fest, darunter Zivilisten und ehemalige Mitglieder der gewählten Regierung von Bergkarabach. Hunderte Menschen werden vermisst, darunter auch ein Verwandter meines Freundes.

Was tut CSI vor Ort, welcher Unterschied kann gemacht werden?
Wir helfen armenischen Flüchtlingen aus Bergkarabach in Armenien bei der Wohnungssuche und beim Aufbau neuer Unternehmen. Wir setzen uns auch für die Armenier ein, die noch immer von Aserbaidschan als Geiseln gehalten werden. Vor dem Angriff Aserbaidschans haben wir ein Rehabilitationszentrum in Bergkarabach unterstützt, in dem viele Menschen mit Behinderungen menschenwürdig betreut werden. Alle Mitarbeiter und Patienten des Zentrums befinden sich nun im Exil in Armenien, verstreut über das ganze Land. Aber die Mitarbeiter fahren immer noch Hunderte von Kilometern, um all ihre alten Patienten zu besuchen und sicherzustellen, dass sie die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Wir sind sehr stolz darauf, diese Arbeit unterstützen zu können. Wir hoffen, eines Tages beim Bau eines neuen Rehabilitationszentrums in Armenien helfen zu können.

Wie steht es um das christliche Kulturgut, also die alten Kirchen und Klöster in der Region?
In Bergkarabach befinden sich Hunderte von christlichen Kirchen, Klöstern und Friedhöfen, darunter einige der ältesten christlichen Stätten der Welt. Es besteht die grosse Befürchtung, dass Aserbaidschan dieses Kulturerbe zerstören wird, wie es bereits in der Region Nachitschewan geschehen ist. Schon jetzt sind viele Kirchen und Friedhöfe verwüstet oder beschossen, Kreuze entfernt, Grabsteine zerstört und so weiter.

CSI ist schon seit Jahrzehnten in der Region tätig, wie sah der Einsatz zu Beginn aus?
CSI begann seine Arbeit in Bergkarabach im Jahr 1991. Damals wurde Bergkarabach von sowjetischen und aserbaidschanischen Truppen angegriffen und konnte nur durch gefährliche Tiefflüge mit Hubschraubern oder mit Jeeps über versteckte Bergpfade erreicht werden. Als unser Präsident John Eibner zum ersten Mal die Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert, besuchte, gab es dort keinen Strom und die Stadt stand unter ständigem Beschuss. Amputationen wurden ohne Betäubung vorgenommen. CSI begann, medizinische Hilfsgüter und andere lebenswichtige Güter nach Bergkarabach zu schmuggeln. Der Krieg endete mit einem Überraschungssieg der Armenier und Bergkarabach überlebte weitere dreissig Jahre. Heute ist es leider verloren.

Was bedeutet die ganze Situation für Armenien?
Armenien befindet sich derzeit in einer sehr prekären Lage. Aserbaidschan verlangt von Armenien den Bau eines Korridors durch Südarmenien und die Übergabe strategischer Dörfer. Aserbaidschan besetzt bereits Hunderte von Quadratkilometern armenischen Territoriums und greift regelmässig armenische Soldaten und Dörfer entlang der Grenze an. Aserbaidschanische Staatsmedien behaupten, dass ganz oder fast ganz Armenien in Wirklichkeit «West-Aserbaidschan» sei, zu dem «wir zurückkehren müssen». Die ganze Welt – die USA, Europa, Russland – sah zu, wie Aserbaidschan Bergkarabach zerstörte. Wenn Aserbaidschan beschliesst, Armenien selbst anzugreifen, wird Armenien nicht viel Unterstützung finden.

Welche Hoffnung sehen Sie; gibt es menschlich gesehen überhaupt noch eine?
Während des Völkermordes an den Armeniern 1915 konnten Christen in der Schweiz, in Europa und in den USA Druck auf ihre Regierungen ausüben, um ihren armenischen Brüdern und Schwestern zu helfen. In der aktuellen Krise haben sich westliche Regierungen zu einem grossen Teil mitschuldig gemacht an der Aggression Aserbaidschans gegen die Armenier. Aserbaidschan ist für den Westen strategisch wichtiger als Armenien, deshalb durfte Aserbaidschan machen, was es wollte. Das kann sich ändern, aber nur, wenn sich die einfachen Christen für die Armenier einsetzen.

Zur Website:
Christian Solidarity International Schweiz

Zum Thema:
Um 40 Prozent gewachsen: Auswirkungen der Flucht aus Bergkarabach auf die Kirche
Bergkarabach: «Noch ein Völkermord darf nicht zugelassen werden»
Kaukasus-Region: Kirchen besorgt um Situation in Bergkarabach

Datum: 23.04.2024
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung