Schon ein Tee verhindert Einsamkeit
Eines Tages im Jahr 2011 ging Emily Kenward die Lavender Street im englischen Brighton entlang. Sie war diese Strasse schon oft gegangen, aber jetzt sah sie sie mit anderen Augen. Beim Blick auf die Hochhausblöcke mit Sozialwohnungen fiel ihr auf, dass viele von ihnen ihre Vorhänge zugezogen hatten. Obwohl es in der Gegend viele ältere Menschen gibt, waren nur wenige ältere Menschen auf der Strasse unterwegs. Das brachte sie auf eine Idee. Mit Hilfe einer örtlichen Wohltätigkeitsorganisation erstellte Emily eine Karte der Seniorenwohnungen in Brighton. Sie brachte dann ein Team von Freiwilligen zusammen, das alle 1000 Wohnungen besuchte und die Bewohner zu einem besonderen Nachmittagstee einlud. Es kamen 94 Personen, die ein Durchschnittsalter von 83 Jahren aufwiesen, schreibt der englische Autor Sheridan Voysey in seinem Blog.
Gesucht: Ein freundliches Gesicht
Eine von ihnen war eine zierliche irische Frau namens Margaret, die für die Gruppe typisch war. Ihr Mann war verstorben und gesundheitliche Probleme schränkten ihre Mobilität ein. So hatte sie oft monatelang niemanden gesehen. Sie sehnte sich nach Besuch, sagte sie. Ein freundliches Gesicht, mit dem sie reden konnte. Jemanden, der die Aussenwelt in ihr einsames Haus bringt.
Margarets Erfahrung ist heute ein breit erlebtes Schicksal: Allein in England und Wales leben gemäss der nationalen Statistik 3,3 Millionen im Pensionsalter allein. Etwa eine Million von ihnen ist einsam. Eine Meta-Analyse des «National Insitute for Health and Care Research» von 29 Ländern ergab, dass jeder vierte Erwachsene über 60 sich einsam fühlt – bei den über 75-Jährigen ist es sogar jeder dritte. Praktische Hilfen wie barrierefreie Verkehrsmittel und häusliche Unterstützung sind zwar wichtig. Aber was wirklich zählt, sind menschliche Beziehungen.
Einmal pro Woche
Emily schloss zum Zeitpunkt ihres Nachmittagstee-Experiments gerade ein Studium der Sozialarbeit ab. Nach ihrem Abschluss wurde ihr eine Stelle mit einem Jahreslohn von 28’000 Pfund angeboten. Das lehnte sie jedoch zugunsten eines Stipendiums von 5000 Pfund ab. Damit gründete sie die Wohltätigkeitsorganisation «Time to Talk». Diese hat seither über 2000 älteren Menschen im Bezirk Sussex mit ehrenamtlichen Freundschaftsbotschaftern zusammengebracht hat. Sie werden einmal pro Woche angerufen oder besucht, um sich «wieder wie in der Welt zu fühlen». In Grossbritannien gibt es über 400 solcher Wohltätigkeitsorganisationen. Die Studierenden, jungen Mütter und andere Freiwillige sagen, dass sie am meisten von ihren Besuchen profitieren. So können sie ihr Leben sinnvoll gestalten.
Eine Verbindung anbieten
Kurz bevor Emily Kenward die Lavender Street hinunterging, war sie gläubige Christin geworden. Dieses Ereignis öffnete ihr die Augen für die Bedürfnisse in ihrer Gemeinde. Es zeigt, dass eine echte Begegnung mit Gott an der Liebe zu anderen gemessen werden kann, die sie hervorbringt. Und es erinnert an die Kraft einfacher menschlicher Beziehungen. Als der erste Nachmittagstee zu Ende war, kam Margaret und umarmte Emily ganz fest. Dann begann sie zu weinen. Zehn Minuten lang schluchzte sie, unfähig, Emily loszulassen, denn es war so lange her, dass sie sich gesehen und gehört gefühlt hatte. Was können wir Besseres schenken als jemandem helfen, ihn sehen und hören?
Dieser Beitrag erschien bei Dienstagsmail.
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Datum: 13.05.2024
Autor:
Markus Baumgartner
Quelle:
Dienstagsmail