Nur tragbar oder mittendrin?
Als Neunzehnjähriger erhielt Dr. theol. Oliver Merz (*1971) die Diagnose MS (Multiple Sklerose). Das lenkte sein Leben in neue Bahnen. Im Livenet-Talk spricht er mit Chefredaktor Florian Wüthrich über Inklusion, Kirchen, Einheit und vieles mehr.
Institut Inklusiv
Seit vielen Jahre forscht Oliver Merz schon zum Thema Inklusion. «Ich erhielt immer mehr Anfragen für Referate, zum Unterrichten, Schreiben von Artikeln, Geben von Interviews – es ging bis hin zu einem Kinofilm.» Sein Thema weckt zunehmend das Interesse der Gesellschaft und der Kirchen. «Wir merkten, dass die Zeit gekommen war und so gründeten meine Frau und ich, zusammen mit einem Beirat, ein Institut.»
Der Gedanke dafür sei während zehn Jahren herangewachsen. Der Beirat stellte sich aus gut befreundeten, hochqualifizierten Fachpersonen zusammen. «Leute mit verschiedenstem Hintergrund, die aber alle irgendwie mit dem Thema unterwegs sind.» So entstand 2021 das Institut Inklusiv. «Wir gehen Schritt für Schritt vorwärts und schauen, was passiert.»
Überhaupt zumutbar?
«Inklusion ist mein Zugang zum Thema Behinderung, Beeinträchtigung, Krankheit. Das Thema wird aber auch mit vielen anderen Zielgruppen verbunden wie Asylsuchenden, LGBTQ und so weiter.» Oliver kam durch seine Biografie in diese Thematik. «Ich wurde schon früh damit konfrontiert, dass meine Krankheit Folgen für mein Leben haben würde.»
Eigentlich wollte er Grafiker werden, doch dann entschied er sich für den Weg Richtung Pfarrberuf. «Nach dem Grundstudium, bevor man mich überhaupt auf eine Kirchgemeinde 'losgelassen hat', wurde ich mit der Frage konfrontiert, ob ich überhaupt tragbar und zumutbar bin.» Er brauchte ein Attest von Experten, die ihm, trotz MS, eine Eignung zum Pfarrberuf ausstellten. «Da realisierte ich, dass das Thema Inklusion nicht an mir vorbeigehen, sondern mich begleiten würde.»
Alle sind willkommen – zumindest theoretisch
Anfänglich musste sich Oliver Merz über Themen wie Heilung und sein Gottesbild auseinandersetzen. «Konnte ich an einen barmherzigen Gott glauben, der mich aber doch krank sein lässt?» Später stellten sich weitere Fragen, wie beispielsweise, ob beeinträchtigte Menschen in Kirchen tatsächlich willkommen sind. Bezüglich Behinderung und Krankheit stehe die Kirche sicher an einem anderen Ort als noch vor wenigen Jahrzehnten. «Den Anspruch, für alle da zu sein, haben Kirchen oft», hält Oliver fest. «In der Praxis gestaltet sich dies aber oft als herausfordernd.» Gründe dafür könnten theologischer Art oder auch ein Mangel an Reflexion oder irgendwelche Vorbehalte, Ängste und Vorurteile sein.
Von Integration zu Inklusion
«In der Schweiz sind wir im Umbruch von einem Integrations- zum Inklusionsverständnis und weltweit ist gerade viel in Bewegung, wo die Schweiz mitzieht. Die Kirchen hinken leider oft etwas hinterher.» Oliver wünscht sich, als Kirche mehr Vorreiter zu sein. «Mit Integration werden Menschen unterstützt, um 'gesellschaftskompatibel' zu werden.» Dieses Verständnis sei verbreitet – gerade auch in Kirchen. «Inklusion betont die Verschiedenartigkeit der Menschen und das Ganze hat die Verantwortung, dass alle ihren Platz haben und partizipieren können.» Beide Ansätze bezeichnet Oliver als hohe Ideale.
«Die Chance der Kirchen liegt in ihrer Tradition», hält Oliver fest. «Bereits in den biblischen Texten haben sie viele Modelle und Überzeugungen, die dabei helfen, inklusiver und anschlussfähiger zu werden.» Gesellschaftlich ist Inklusion gefordert und es gibt zahlreiche entsprechende Gesetze. «Von der Kirche wünsche ich mir, dass wir mehr von unseren Überzeugungen her, proaktiv handeln.» Oliver Merz sieht die inklusive Kirche bereits in den biblischen Texten präsentiert. In einem Artikel hat er die Grundlagen zu Inklusion in Theologie und Kirche dargelegt (siehe unten).
Es gilt, die Sichtweise des anderen zu verstehen
In einem Radiointerview wurde Oliver Merz neulich gefragt, welche Schlagzeile er sich wünsche. Er wünschte sich die Meldung, dass die gelebte Einheit der Christen sogar Atheisten zum Umdenken bringe. Der Herausforderungen sei er sich sehr wohl bewusst: «In Zeiten vieler Polarisierungen ringen wir Christen darum, uns nicht auseinanderbringen zu lassen. Trotzdem glaube ich, dass es mit Gottes Hilfe und seinem Erbarmen möglich ist, dass es auch Gegenbewegungen gibt.» Gerade zwischen Institutionen und Kirchen gebe es verbindende Bewegungen und Strömungen.
In seinem Leben kam Oliver Merz mit den meisten Lagern der kirchlichen Landschaft in Berührung. «Wir haben noch nicht den Himmel auf Erden», hält er fest. Er selbst finde immer mehr zu einem Ja, diese Spannungen auszuhalten. «Wir müssen uns über das Wichtige klar werden und uns bei nebensächlicheren Dingen Freiheit lassen.» Oliver spricht davon, dass Einheit trotz Verschiedenheit möglich sei. Es gilt, die Sichtweise des anderen zu verstehen. «In solchen Prozessen habe ich sehr viel gelernt.»
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Sehen Sie hier den Livenet-Talk mit Oliver Merz:
Zur Website:
Grundlagen Inklusion in Theologie und Kirche von Oliver Merz
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Datum: 18.03.2022
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet