Lautes Lesen der Bibel verändert alles
Christine Wassmer ist Gymnasiallehrerin mit 20 Jahren Berufserfahrung und internationale Gastdozentin für Englische Literatur. Als sie 2017 an einer Schule in Navrongo (ganz im Norden Ghanas) eine zehntägige Lehrerweiterbildung leitete, stellte sie fest, dass die Mehrheit (über 50 Prozent) der ghanaischen Schüler kaum lesen können.
Die Sprachsituation in Ghana ist komplex. Das westafrikanische Land mit gut 30 Millionen Einwohnern kennt über 80 Muttersprachen, und die Kinder lernen die Amtssprache Englisch erst in der Schule. Das führt zu grossen Schwierigkeiten mit dem Lesen.
«Die äusserlichen Lernbedingungen erschweren das Lernen zusätzlich. Die Klassen sind mit 45 bis 90 Schülern in einem Zimmer überfüllt. Die Zimmer habe keine Fenster, es ist sehr laut und heiss. Die meisten Schüler können sich keine Schulbücher leisten. Zudem ist die Didaktik veraltet und kreativlos. Dies alles führt zu grossen Schwierigkeiten mit dem Lesen und folglich zu allgemein sehr schwachen Schulleistungen. Das Selbstvertrauen und die weiterführende Berufsausbildung bleibt den Kindern verwehrt. Falls sie trotz mangelhafter Schulbildung Arbeit finden, liegt ihr Einkommen meist unter der Armutsgrenze», fasst Christine Wassmer die Situation zusammen, die sie in Ghana vorfand.
Schon am Gymnasium
Die Dozentin hatte bereits als Gymnasiallehrerin für Maturanden Erfahrungen mit dem lauten Lesen von Texten und einem multimedialen, kreativen Umgang mit Literatur gesammelt. Die Bibel war für sie ein besonders inspirierender Text. Die Bibelbücher stellte sie jahrelang für die englische Maturaabschlussprüfung zur Auswahl, aber lange Zeit hatte kein Maturand Interesse daran. «Dann plötzlich wählten eine Schülerin und ein Schüler je ein Evangelium als Matura-Text. Ich habe sie ermutigt das ganze Bibelbuch zur Vorbereitung laut zu lesen», erzählt Christine Wassmer.
Das Ergebnis: Eine Schülerin wurde – allein durch das Lesen des Evangeliums – Christin – und bekannte das prompt vor der Maturaprüfungsexpertin. Später hat Christine das Johannesevangelium mit einer ganze Klasse im Literaturunterricht zuerst laut gelesen und nachher analysiert und kreativ verarbeitet. «Die Literaturdiskussionen mit den Schülern über den biblischen Text waren äusserst lebendig und tiefgehend interessant», berichtet Dozentin Christine Wassmer. Sie erlebte, wovon sie schon lange überzeugt war: dass das laute, zusammenhängende Lesen von Texten – vor allem biblischen Texten – erstaunliche Wirkungen in vielen Dimensionen hat.
The Book in School
Mit diesem Wissen startete Christine Wassmer 2018/19 an mehreren Schulen in Ghana ein Pilotprojekt. Im Sprachunterricht wurde mit klassischen Bibeltexten gearbeitet, die jeweils zehn Minuten lang laut gelesen wurden. Dann konnte man über den Text sprechen. Warum die Bibel? «Die Biblische Sprache ist reichhaltig und bildet die Grundlage der (Welt-)Literatur. Allein Shakespeares Werke weisen über 1'500 Bibelreferenzen auf!», erklärt die Dozentin. «Tiefgang und Zeitlosigkeit des Textes erschliessen den Schülern einen breiten Kontext, um ethische und gesellschaftliche Fragen zu diskutieren.»
Im Projekt wird jeweils ein ganzes Buch der Bibel gelesen. Die Resultate an den 24 teilnehmenden Schulen im letzten Jahr waren derart gut, dass die staatliche Erziehungsdirektion in Accra sich nun für eine Zusammenarbeit interessiert. Lehrer berichten von einer signifikanten Verbesserung der Lesefähigkeit von bis zu 90 Prozent bereits innerhalb von zwei Monaten.
«Zudem stellen sie eine Förderung sämtlicher anderer akademischer und sozialer Kompetenzen fest: allgemeine Sprachfähigkeit, Literatur-Analyse, Kreativität, selbständiges und vernetztes Denken, Verbesserung der Teambildung und Kommunikation in der Schule», fasst Christine Wassmer die Ergebnisse zusammen. «Das Lesen wird ergänzt mit weiterem spannenden, interdisziplinären Unterricht. Mit Verbindungen zum eigenen Lebenskontext – und über diesen hinaus – lernen Schüler sich selbst besser kennen. Sie entdecken dabei, was uns als Menschen verbindet.»
«Hochenergie-Text»
Das «Geheimnis» dieser Veränderungen ist einerseits physiologisch und psychologisch begründet, wie Christine Wassmer im Gespräch mit Livenet erklärt: «Man muss 100 Muskeln koordinieren, bis die Stimme funktioniert. Das bedeutet, dass der Körper stark aktiviert wird – auch das Hirn wird aktiviert.» Noam Chomsky, einer der bekanntesten Linguisten der Gegenwart, hält fest: «Wir haben so etwas wie eine interne Grammatik, man korrigiert sich selbst. Laut lesen verändert immer, egal welcher Text.»
Beim Bibeltext kommt eine ganz besondere Wirkung dazu. Auch verschiedene Menschen in die Schweiz kamen in Berührung mit dem Projekt. Sie fingen selber an, den biblischen Text laut zu lesen; dabei stellten sie fest, dass sie eine tiefe Freude spüren und «an innerer Stärke gewinnen. Ängste und Schwermut treten in dem Hintergrund», so Wassmer. «Das laute Lesen der Bibel ist ein Schöpfungsakt; das Verb 'meditieren' im Psalmtext 'wohl dem, der über deinem Wort Tag und Nacht meditiert' bedeutet eigentlich murmeln, laut sprechen – orthodoxe Juden setzen ja bekanntlich den ganzen Körper ein, wenn sie den Text rezitieren.»
Christine Wassmer hat es in Ghana vielfach erlebt: «Wenn die Bibel laut gelesen wird, passiert etwas im Klassenzimmer. Hier arbeiten wir mit Hochenergie-Text.» Die Webseite des Vereins «The Book in School», den sie mittlerweile gegründet hat, zeigt bewegend, wie die laut gelesenen Evangelien nicht zuletzt die künstlerischen Fähigkeiten von Kindern freisetzen: Das Projekt ist mit einem textbezogenen Kunstprojekt und einem Schulwettbewerb verbunden. 2019/2020 nahmen bereits 6'000 Schülerinnen und Schüler zwischen neun und 15 Jahren sowie 140 Lehrkräfte in Basisschulen in vier Regionen (Accra, Kumasi, Upper East, Eastern Region) erfolgreich an «The Book in School» teil. Mittlerweile ist das Projekt als Lehrerfortbildung in Ghana anerkannt, und im aktuellen Schuljahr 2021/22 bekamen bereits 8'000 Kinder und 200 Lehrkräften die Möglichkeit, am Projekt teilzunehmen.
«Die Stimmung in der ganzen Schule verändert»
Ein Lehrer berichtet: «'The Book in School' hat mir als Lehrperson sehr geholfen. Ich habe neue Unterrichtsmethoden gelernt und habe mir neue Fähigkeiten angeeignet: Literaturanalyse, Teamarbeit, laut lesen, Text visualisieren, mit Farbe arbeiten.» Am erfreulichsten seien aber die Auswirkungen auf seine Schüler: «Die Lesefähigkeit meiner Schüler hat sich sehr verbessert; durch den kreativen Ansatz können sie die Texte jetzt viel besser verstehen und es macht ihnen mehr Spass. Das Projekt hilft, die Talente von Kindern zu entdecken, und damit haben alle das Gefühl, sie gehören dazu und können zum Unterricht beitragen. Die moralische Orientierung, welcher ihnen der biblische Text gibt, hat die Stimmung in der Klasse und in der ganzen Schule verändert. Sie wollen jetzt einander vergeben. Es ist mehr Friede und Freude da.»
Zur Webseite:
The Book in School
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Datum: 08.10.2021
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet